Gedanken zu den Lawinengefahrenstufen des Lawinenprognoseberichtes.

Die durchschnittliche Besuchszeit auf der Webseite des Steirischen Lawinenwarndienstes beträgt etwa 15 Sekunden.

Seit 2017 wird der Lawinenlagebericht in der Steiermark nicht am Morgen sondern am Vortag als „Lawinenprognosebericht“ (LPB) für den kommenden Tag publiziert. Der Prognosebericht hat den Stellenwert einer Prognose und soll Skitourengeher bei ihrer Planung und Durchführung von Touren im freien Gelände unterstützen und kann unter Umständen auch einmal falsch sein.

Basis für die Erstellung des LPB sind vielfach vorallem meteorologische Daten und nur in einem geringen Maß Schneedecken- oder Stabilitätsfaktoren, gewonnen etwa durch Schneedeckenuntersuchungen. Selbst wenn Mitarbeiter des Lawinenwarndienstes stichprobenartig in bestimmten Zeiträumen Schneedeckenuntersuchungen (Scheeprofile, Stabilitätstests) durchführen, so ist eine Aussage über ein spezifisches, kleinräumiges Gebiet hinsichtlich der Schneedeckenstabilität nicht möglich. Aufgrund der Abhängigkeit des LPB vom Wetterbericht, hat eine falsche Wettervorhersage Auswirkungen auf den LPB.

Der Grad der Lawinengefahr ist grundlegend abhängig von:

‣  der Schneedeckenstabilität,

‣  der Auslösewahrscheinlichkeit (spontan, geringe oder große Zusatzlast),

‣  der Verbreitung der Gefahrenstellen und

‣  der Größe und Art der Lawinen.

Wenn also die Schneedeckenstabilität abnimmt und somit die Auslösewahrscheinlichkeit steigt, erhöht sich die Gefahrenstufe. Zudem nehmen die Verbreitung der Gefahrenstellen und die Lawinengrößen zu.

Die Zunahme der Lawinengefahr erfolgt nicht linear sondern exponentiell. Das bedeutet, dass mit jeder höheren Gefahrenstufe die Schneedeckenstabilität um ein Vielfaches sinkt und sich damit die Auslösewahrscheinlichkeit überproportional steigert. Die Lawinengefahrenstufe soll uns Auskunft über die Eintrittswahrscheinlichkeit und die zu erwartenden Größen von Lawinen geben.

Der LPB muss geografisch grundlegend als Regionsinformation gesehen werden und kann keine Einzelhangbeurteilung darstellen. Innerhalb einer Region kann in unterschiedlichen Hängen die Lawinengefahr unterschiedlich hoch sein. Selbst innerhalb einer Gefahrenstufe kann die Lawinengefahr unterschiedlich ausgeprägt sein. Die nachfolgende Skizze soll veranschaulichen, dass bei „erheblicher“ Lawinengefahr deutlich unterschiedliche Ausprägungen der Lawinengefahr möglich sind. Je höher die Gefahrenstufe, desto gravierender wird diese Tatsache.

Die Skizze zeigt, dass bei „erheblich“ die Gefahr für den Skitourengeher im Gelände bei B ungleich höher ist als bei A.

War gestern „erhebliche“ Lawinengefahr bei A, unterscheidet sich unter Umständen heute bei „mäßiger“ Lawinengefahr bei C, die Lawinengefahr in der Realität nur geringfügig. Die Höhe der Gefahrenstufe, als einzelne Zahl ausgedrückt, kann beim Wintersportler, obwohl die Situation der Lawinengefahr im Gelände in diesem Beispiel fast ident ist, zu völlig unterschiedlicher Risikobereitschaft auf Tour führen!

In der Tourenplanung wird man sich in diesem Zusammenhang die LPB der vergangenen Tage und damit die Gefahrenstufenentwicklung ansehen müssen. Nach gestriger „erheblicher“ Lawinengefahr, wird die Gefahr im Gelände heute trotz „mäßiger“ Lawinengefahr nur selten wesentlich geringer sein. Ein Anstieg der Lawinengefahr ist für den Prognostiker vielfach einfacher zu beurteilen (durch: Neuschnee, Regen, Windverfrachtung, Feuchte durch Wärme) als das zeitliche Eintreten des Rückganges. Besonders schwierig ist es, den Rückgang von „erheblich“ auf „mäßig“ zu prognostizieren.

Vernünftige Tourenplanung besteht nicht nur aus der Betrachtung einer isolierten Zahl einer Gefahrenstufe, sondern soll gesamtheitlicher gefasst sein und zumindest den gesamten Text des LPB beinhalten.

Bedenke – Die Natur kennt die Zahl, die wir uns konstruieren, nicht und die Schneedeckenstabilität ändert sich schon gar nicht stufenförmig …

Vielmehr heißt es bei der Interpretation des LPB in Bandbreiten zu denken. Dies trifft nicht nur für die Änderung der Lawinengefahr im Hinblick auf unsere Stufen zu, sondern auch auf die nachstehenden Piktogramme der höhenabhängigen Änderung der Lawinengefahr und des Tagesganges der Lawinengefahr. Ebenso auf die am stärksten betroffenen Expositionen (Ausrichtungen der Geländeformen).
Wir betrachten diese Grenzen nicht scharf und immobil sondern als fließende, schwankende Übergänge. Im Bereich der Übergangsbereiche ist grundsätzlich von der ungünstigeren Gefahrenstufe auszugehen.

Abschließend soll noch darauf hingewiesen werden, dass sich bei Gefahrenstufe „gering“ (1) wenige Stellen (ca. 5 %) im Gelände einer Gebirgsregion finden werden, an denen Lawinen (in erster Linie bei großer Zusatzbelastung) ausgelöst werden können. Lawinenauslösungen sind aber in entsprechender Steilheit dennoch möglich. In Gebirgsregionen mit vielen steilen Geländeformen werden entsprechend mehr „auslösbare“ Stellen vorhanden sein. Es gilt demnach auch bei dieser niedrigsten Gefahrenstufe im steilen Gelände mit wachem Auge zu beurteilen und sich immer vor Augen zu halten, dass der LPB keine Einzelhangbeurteilung bieten kann.

Autor
Jürgen Reinmüller
Berufsbergführer und Alpinschulleiter
Allg. beeideter und gerichtl. zertif. Sachverständiger